Lesetext: „Der Sprung“
Lies den Text zunächst in Ruhe vollständig. Achte auf Jonas’ Gefühle, den Druck der anderen und das Ende.
(1) Der Geruch von Chlor hing in der warmen Luft, als Jonas auf die schmale Treppe zum Drei-Meter-Brett stieg.
(2) Unter ihm plätscherte das Wasser, über ihm hörte er das Rufen seiner Freunde.
(3) „Los, Jonas, beeil dich!“, rief Tim von unten.
(4) „Du wolltest doch zeigen, dass du dich traust“, fügte Leon hinzu und grinste breit.
(5) Jonas spürte, wie seine Hände feucht wurden.
(6) Schon zweimal war er wieder heruntergestiegen, bevor er auch nur bis zur Mitte der Treppe gekommen war.
(7) Heute sollte alles anders werden.
(8) Das hatte er sich vorgenommen, als er morgens seine Badehose eingepackt hatte.
(9) „Diesmal springe ich“, hatte er im Flur leise zu sich gesagt, damit seine kleine Schwester es nicht hörte.
(10) Sie hatte ihn nämlich beim letzten Besuch im Freibad ausgelacht, als er nach langem Zögern wieder die Leiter hinuntergeklettert war.
(11) Auf halber Höhe blieb Jonas stehen.
(12) Er klammerte sich an das Geländer und sah nach unten.
(13) Die Menschen wirkten kleiner von hier oben, das Wasser weiter entfernt.
(14) Ein Kloß bildete sich in seinem Hals.
(15) „Was ist denn jetzt?“, rief eine fremde Stimme.
(16) Eine Frau mit roter Badekappe stand im Beckenrandbereich und blickte zu ihm hoch.
(17) Hinter ihr wartete ein Junge in Jonas’ Alter an der Leiter, die Arme verschränkt, das Gesicht ungeduldig.
(18) Jonas atmete tief ein.
(19) „Nur noch ein paar Stufen“, flüsterte er.
(20) Seine Knie fühlten sich an wie Pudding, als er weiterging.
(21) Über ihm bewegte sich schon jemand auf dem Fünf-Meter-Turm, sprang, klatschte ins Wasser.
(22) Das laute Platschen ließ ihn zusammenzucken.
(23) „Hab keine Angst, das ist nur Wasser“, hatte seine Mutter abends gesagt, als sie am Küchentisch über den letzten Freibadbesuch gesprochen hatten.
(24) „Aber wenn du dich nicht traust, ist das auch in Ordnung. Du musst nur ehrlich zu dir selbst sein.“
(25) Jonas hatte damals nur mit den Schultern gezuckt.
(26) Jetzt stand er endlich oben.
(27) Das Brett schwang leicht unter seinen Füßen, als er vorsichtig die ersten Schritte nach vorne machte.
(28) Ein Luftzug strich über seine Schultern, und er spürte, wie kalt seine nassen Zehen auf der rauen Oberfläche wurden.
(29) „Jonas!“, hörte er Tims Stimme.
(30) „Wir filmen das!“, rief Leon begeistert und hielt sein Handy hoch, das im Sonnenlicht glänzte.
(31) Jonas sah, wie die anderen Kinder im Wasser den Kopf in den Nacken legten und erwartungsvoll nach oben schauten.
(32) „Wenn ich jetzt springe, sehen es alle“, dachte Jonas.
(33) „Und wenn ich wieder zurückgehe, sehen sie es auch.“
(34) Er merkte, wie sein Herz schneller schlug.
(35) Ein Teil von ihm wollte einfach nur weg, zurück zur Wiese, wo seine Mutter mit einem Buch im Schatten saß.
(36) Der andere Teil stellte sich vor, wie es wäre, einzutauchen, wieder aufzutauchen und Tims jubelnden Ruf zu hören.
(37) Hinter ihm räusperte sich jemand.
(38) Jonas drehte den Kopf.
(39) Der Junge von vorhin stand jetzt hinter ihm auf dem Brett.
(40) „Kannst du dich mal entscheiden?“, sagte der Junge genervt.
(41) „Ich warte schon die ganze Zeit.“
(42) Jonas wollte etwas sagen, aber seine Stimme blieb weg.
(43) „Nur noch einen Moment“, brachte er schließlich hervor.
(44) Der Junge seufzte laut und verschränkte erneut die Arme.
(45) Plötzlich sah Jonas im Augenwinkel seine Mutter unten am Beckenrand.
(46) Sie hatte das Buch zugeklappt und die Hand über die Augen gelegt, um gegen die Sonne besser sehen zu können.
(47) Als sie ihn entdeckte, winkte sie.
(48) Es war nur eine kleine Bewegung, aber Jonas erkannte das vertraute, aufmunternde Lächeln in ihrem Gesicht.
(49) Er spürte, wie sich etwas in ihm löste.
(50) „Ich mache das für mich“, dachte er.
(51) Nicht für Tim, nicht für Leon, nicht für das Handy.
(52) Langsam stellte er sich an den Rand des Brettes.
(53) Er sah hinunter auf die hellblaue Fläche, in der sich die Sonne spiegelte.
(54) Die Stimmen unter ihm wurden zu einem dumpfen Rauschen.
(55) „Arme nach oben, Blick nach vorne“, erinnerte er sich an den Tipp des Bademeisters aus dem Schwimmunterricht.
(56) Jonas hob die Arme, atmete durch und schloss für einen Moment die Augen.
(57) „Jetzt“, sagte er leise.
(58) In diesem Augenblick passierte alles gleichzeitig:
(59) Der Wind strich ihm stärker ins Gesicht, das Brett unter seinen Füßen gab leicht nach, und ein Ruf stieg aus der Menge auf.
(60) Jonas machte einen Schritt nach vorn.
(61) Ob er fiel oder sprang, konnte er später nicht mehr genau sagen.
(62) Er spürte nur die Leere unter sich, das kurze, wilde Klopfen seines Herzens und den kalten Schlag des Wassers, der ihm den Atem nahm.
(63) Als er wieder auftauchte, hörte er das Echo seiner Freunde, das Kreischen kleiner Kinder, das Murmeln der Erwachsenen.
(64) Sein Kopf tauchte aus dem Wasser, er wischte sich das Gesicht frei und blinzelte gegen die Sonne.
(65) Irgendjemand rief seinen Namen.
(66) Jonas drehte sich im Wasser um und suchte nach dem vertrauten Lächeln am Beckenrand.
(67) Dann merkte er, dass er grinste.
(68) Ganz ohne es zu planen.
Aufgaben zum Leseverstehen
Bearbeite die Aufgaben nacheinander. Lies bei Bedarf Stellen aus dem Text noch einmal nach.
1. Multiple-Choice-Aufgaben
Kreuze jeweils eine Antwort an.
1) Warum ist Jonas die Situation auf dem Dreimeterbrett unangenehm?
2) Welche Rolle spielen Tims und Leons Verhalten für Jonas?
3) Was ändert sich, als Jonas seine Mutter am Beckenrand sieht?
2. Richtig/Falsch-Aussagen
Kreuze jeweils an, ob die Aussage zum Text passt.
| Aussage | Richtig | Falsch |
|---|---|---|
| Jonas ist schon oft mutig vom Fünf-Meter-Turm gesprungen. | ||
| Jonas hat beim letzten Freibadbesuch die Treppe wieder hinuntergenommen. | ||
| Die Mutter drängt Jonas nicht, sondern ermutigt ihn, ehrlich zu sich zu sein. | ||
| Am Ende bereut Jonas seinen Sprung. |
3. Kurzantworten in eigenen Worten
a) Warum fällt Jonas die Entscheidung, zu springen oder nicht, so schwer?
b) Welche Bedeutung hat der Satz „Ich mache das für mich“ (Z.50) für Jonas?
c) Wie wirkt Jonas am Ende der Geschichte, nachdem er aus dem Wasser auftaucht?
4. Figurenanalyse – Jonas
Beschreibe Jonas’ Entwicklung im Verlauf der Geschichte (Anfang – Mitte – Ende).
5. Sprachliche und erzählerische Mittel
a) Beschreibe die Erzählperspektive und ihre Wirkung.
b) Nenne ein Beispiel für innere Gedanken im Text und erkläre die Wirkung.
c) Beschreibe die Wirkung des Endes („Dann merkte er, dass er grinste.“).
Lösungsvorschläge im Überblick
Diese Lösungen sind Vorschläge. Eigene Formulierungen der Schülerinnen und Schüler können ebenfalls richtig sein, wenn Inhalt und Belege passen.
1. Multiple-Choice
- 1) b – Angst vor der Höhe + alle beobachten ihn.
- 2) c – Freunde setzen ihn durch Zurufe und Filmen unter Druck.
- 3) a – Er beschließt, für sich selbst zu springen.
2. Richtig/Falsch
- rf1: falsch
- rf2: richtig
- rf3: richtig
- rf4: falsch
3. Kurzantworten / 4. Figurenanalyse / 5. Sprachliche Mittel
Siehe die ausführlichen Musterlösungen unter den jeweiligen Aufgaben. Für die Bewertung sind wichtig:
- Bezug auf den Text (Zeilen / Situationen)
- klare Beschreibung von Jonas’ Gefühlen und Entwicklung
- richtige Verwendung von Fachbegriffen (z. B. personale Perspektive, innerer Monolog, Spannung)
- sachliche, verständliche Sprache