Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull Erstes Buch
- Seite 9-20 (Erstes und Zweites Kapitel) Erstes Kapitel Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Muße und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (so daß ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärtsschreiten können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen bin. Allein, da alles, was ich mitzuteilen habe, sich aus meinen eigensten und unmittelbarsten Erfahrungen, Irrtümern und Leidenschaften zusammensetzt und ich also meinen Stoff vollkommen beherrsche, so könnte jener Zweifel höchstens den mir zu Gebote stehenden Takt und Anstand des Ausdrucks betreffen, und in diesen Dingen geben regelmäßige und wohl beendete Studien nach meiner Meinung weit weniger den Ausschlag, als natürliche Begabung und eine gute Kinderstube. An dieser hat es mir nicht gefehlt, denn ich stamme aus feinbürgerlichem, wenn auch liederlichem Hause; mehrere Monate lang standen meine Schwester Olympia und ich unter der Obhut eines Fräuleins aus Vevey, das dann freilich, da sich ein Verhältnis weiblicher Rivalität zwischen ihr und meiner Mutter – und zwar in Beziehung auf meinen Vater – gebildet hatte, das Feld räumen mußte; mein Pate Schimmelpreester, mit dem ich auf sehr innigem Fuße stand, war ein vielfach geschätzter Künstler, den jedermann im Städtchen »Herr Professor« nannte, obgleich ihm dieser schöne, begehrenswerte Titel von Amtswegen vielleicht nicht einmal zukam; und mein Vater, wiewohl dick und fett, besaß viel persönliche Grazie und legte stets Gewicht auf eine gewählte und durch sichtige Ausdrucksweise. Er hatte von seiner Großmutter her französisches Blut ererbt, hatte selbst seine Lehrzeit in Frankreich verbracht und kannte nach seiner Versicherung Paris wie seine Westentasche. Gerne ließ er – und zwar in vorzüglicher Aussprache – Wendungen wie »c’est c¸ a«, »é patant« oder »par- faitement« in seine Rede einfließen; auch sagte er öfters: »Ich goutiere das« und blieb bis gegen das Ende seines Lebens ein Günstling der Frauen. Dies nur im voraus und außer der Reihe. Was aber meine natürliche Begabung für gute Form betrifft, so konnte ich ihrer, wie mein ganzes trügerisches Leben beweist, von jeher nur allzu sicher sein und glaube mich auch bei diesem schriftlichen Auftreten unbedingt darauf verlassen zu können. Übrigens bin ich entschlossen, bei meinen Aufzeichnungen mit dem vollendetsten Freimut vorzugehen und weder den Vorwurf der Eitelkeit noch den der Schamlosigkeit dabei zu scheuen. Welcher moralische Wert und Sinn wäre auch wohl Bekenntnissen zuzusprechen, die unter einem anderen Gesichtspunkt als demjenigen der Wahrhaftigkeit abgefaßt wären! Der Rheingau hat mich hervorgebracht, jener begünstigte Landstrich, welcher, gelinde und ohne Schroffheit sowohl in Hinsicht auf die Witterungsverhältnisse wie auf die Bodenbeschaffenheit, reich mit Städten und Ortschaften besetzt und fröhlich bevölkert, wohl zu den lieblichsten der bewohnten Erde gehört. Hier blühen, vom Rheingaugebirge vor rauhen Winden bewahrt und der Mittagssonne glücklich hingebreitet, jene berühmten Siedlungen, bei deren Namensklange dem Zecher das Herz lacht, hier Rauenthal, Johannisberg, Rüdesheim, und hier auch das ehrwürdige Städtchen, in dem ich, wenige Jahre nur nach der glorreichen Gründung des Deutschen Reiches, das Licht der Welt erblickte. Ein wenig westlich des Knies gelegen, welches der Rhein bei Mainz beschreibt, und berühmt durch
seine Schaumweinfabrikation, ist es Hauptanlegeplatz der den Strom hinauf und hinab eilenden Dampfer und zählt gegen viertausend Einwohner. Das lustige Mainz war also sehr nahe und ebenso die vornehmen Taunusbäder, als: Wiesbaden, Homburg, Langenschwalbach und Schlangenbad, welch letzteres man in halbstündiger Fahrt auf einer Schmalspurbahn erreichte. Wie oft in der schönen Jahreszeit unternahmen wir Ausflüge, meine Eltern, meine Schwester Olympia und ich, zu Schiff, zu Wagen und mit der Eisenbahn, und zwar nach allen Himmelsrichtungen: denn überall lockten Reize und Sehenswürdigkeiten, die Natur und Menschenwitz geschaffen. Noch sehe ich meinen Vater in kleinkariertem, bequemem Sommeranzug mit uns in irgendeinem Wirtsgarten sitzen – ein wenig weitab vom Tische, weil sein Bauch ihn hinderte, nahe heranzurücken – und mit unendlichem Behagen ein Gericht Krebse nebst goldenem Rebensaft genießen. Oftmals war auch mein Pate Schimmelpreester dabei, betrachtete Land und Leute scharf prüfend durch seine rundäugige Malerbrille und nahm das Große und Kleine in seine Künstlerseele auf. Mein armer Vater war Inhaber der Firma Engelbert Krull, welche die untergegangene Sektmarke »Lorley extra cuvée« erzeugte. Unten am Rhein, nicht weit von der Landungsbrücke, lagen ihre Kellereien, und nicht selten trieb ich mich als Knabe in den kühlen Gewölben umher, schlenderte gedankenvoll die steinernen Pfade entlang, welche in die Kreuz und Quere zwischen den hohen Gestellen hinführten, und betrachtete die Heere von Flaschen, die dort in halbgeneigter Lage übereinandergeschichtet ruhten. Da liegt ihr, dachte ich bei mir selbst (wenn ich auch meine Gedanken natürlich noch nicht in so treffende Worte zu fassen wußte), da liegt ihr in unterirdischem Dämmerlicht, und in euerem Innern klärt und bereitet sich still der prickelnde Goldsaft, der so manchen Herzschlag beleben, so manches Augenpaar zu höherem Glanze erwecken soll! Noch seht ihr kahl und unscheinbar, aber prachtvoll geschmückt werdet ihr eines Tages zur Oberwelt aufsteigen, um bei Festen, auf Hochzeiten, in Sonderkabinetten eure Pfropfen mit übermütigem Knall zur Decke zu schleudern und Rausch, Leichtsinn und Lust unter den Menschen zu verbreiten. Ähnlich sprach der Knabe; und so viel wenigstens war richtig, daß die Firma Engelbert Krull auf das Äußere ihrer Flaschen, jene letzte Ausstattung, die man fachmännisch die Coiffure nennt, ein ungemeines Gewicht legte. Die gepreßten Korke waren mit Silberdraht und vergoldetem Bindfaden befestigt und mit purpurrotem Lack übersiegelt, ja ein feierliches Rundsiegel, wie man es an Bullen und alten Staatsdokumenten sieht, hing an einer Goldschnur noch besonders herab; die Hälse waren reichlich mit glänzendem Stanniol umkleidet, und auf den Bäuchen prangte ein golden umschnörkeltes Etikett, das mein Pate Schimmelpreester für die Firma entworfen hatte und worauf außer mehreren Wappen und Sternen, dem Namenszuge meines Vaters und der Marke »Lorley extra cuvée« in Golddruck eine nur mit Spangen und Halsketten bekleidete Frauengestalt zu sehen war, welche, mit über-geschlagenem Beine auf der Spitze eines Felsens sitzend, erhobenen Armes einen Kamm durch ihr wallendes Haar führte. Übrigens scheint es, daß die Beschaffenheit des Weines dieser blendenden Aufmachung nicht vollkommen entsprach. »Krull«, mochte mein Pate Schimmelpreester wohl zu meinem Vater sagen, »Ihre Person in Ehren, aber Ihren Champagner sollte die Polizei verbieten. Vor acht Tagen habe ich mich verleiten lassen, eine halbe Flasche davon zu trinken, und noch heute hat meine Natur sich nicht von diesem Angriff erholt. Was für Krätzer verstechen Sie eigentlich zu diesem Gebräu? Ist es Petroleum oder Fusel, was Sie bei der Dosierung zusetzen? Kurzum, das ist Giftmischerei. Fürchten Sie die Gesetze!« Hierauf wurde mein armer Vater verlegen, denn er war ein weicher Mensch, der scharfen Reden nicht standhielt. »Sie haben leicht spotten, Schimmelpreester«, versetzte er wohl, indem er nach seiner Gewohnheit mit den Fingerspitzen zart seinen Bauch streichelte, »aber ich muß billig herstellen, weil das Vorurteil gegen die heimischen Fabrikate es so will – kurz, ich gebe dem Publikum, woran es glaubt. Außerdem sitzt die Konkurrenz mir im Nacken, lieber Freund, so daß es kaum noch zum Aushalten ist.« Soweit mein Vater.
Unsere Villa gehörte zu jenen anmutigen Herrensitzen, die, an sanfte Abhänge gelehnt, den Blick über die Rheinlandschaft beherrschen. Der abfallende Garten war freigebig mit Zwergen, Pilzen und allerlei täuschend nachgeahmtem Getier aus Steingut geschmückt; auf einem Postament ruhte eine spiegelnde Glaskugel, welche die Gesichter überaus komisch verzerrte, und auch eine Äolsharfe, mehrere Grotten sowie ein Springbrunnen waren da, der eine kunstreiche Figur von Wasserstrahlen in die Lüfte warf und in dessen Becken Silberfische schwammen. Um nun von der inneren Häuslichkeit zu reden, so war sie nach dem Geschmack meines Vaters sowohl lauschig wie heiter. Trauliche Erkerplätze luden zum Sitzen ein, und in einem davon stand ein wirkliches Spinnrad. Zahllose Kleinigkeiten: Nippes, Muscheln, Spiegelkästchen und Riechflakons waren auf Etageren und Plüschtischchen angeordnet; Daunenkissen in großer Anzahl, mit Seide oder vielfarbiger Handarbeit
überzogen, waren überall auf Sofas und Ruhebetten verteilt, denn mein Vater liebte es, weich zu liegen; die Gardinenträger waren Hellebarden, und zwischen den Türen waren jene luftigen Vorhänge aus Rohr und bunten Perlenschnüren befestigt, die scheinbar eine feste Wand bilden und die man doch, ohne eine Hand zu heben, durchschreiten kann, wobei sie sich mit einem leisen Rauschen oder Klappern teilen und wieder zusammenschließen. Über dem Windfang war eine kleine, sinnreiche Vorrichtung angebracht, die, während die Tür, durch Luftdruck aufgehalten, langsam ins Schloß zurücksank, mit feinem Klingen den Anfang des Liedes »Freut euch des Lebens« spielte. Zweites Kapitel Dies war das Heim, worin ich an einem lauen Regentage des Wonnemondes – einem Sonntage übrigens – geboren wurde, und von nun an gedenke ich nicht mehr vorzugreifen, sondern die Zeitfolge sorgfältig zur Richtschnur zu nehmen. Meine Geburt ging, wenn ich recht unterrichtet bin, nur sehr langsam und nicht ohne künstliche Nachhilfe unseres damaligen Hausarztes, Doktor Mecum, vonstatten, und zwar hauptsächlich deshalb, weil ich mich – wenn ich jenes frühe und fremde Wesen als »ich« bezeichnen darf – außerordentlich untätig und teilnahmslos dabei verhielt, die Bemühungen meiner Mutter fast gar nicht unterstützte und nicht den mindesten Eifer zeigte, auf eine Welt zu gelangen, die ich später so inständig lieben sollte. Dennoch war ich ein gesundes, wohlgestaltes Kind, das an dem Busen einer ausgezeichneten Amme aufs hoffnungsvollste gedieh. Ich kann aber nach wiederholtem eindringlichem Nachdenken nicht umhin, mein träges und widerwilliges Verhalten bei meiner Geburt, diese offenbare Unlust, das Dunkel des Mutterschoßes mit dem hellen Tage zu vertauschen, in Zusammenhang zu bringen mit der außerordentlichen Neigung und Begabung zum Schlafe, die mir von klein auf eigentümlich war. Man sagte mir, daß ich ein ruhiges Kind gewesen sei, kein Schreihals und Störenfried, sondern dem Schlummer und Halbschlummer in einem den Wärterinnen bequemen Grade zugetan; und obgleich mich später so sehr nach der Welt und den Menschen verlangte, daß ich mich unter verschiedenen Namen unter sie mischte und vieles tat, um sie für mich zu gewinnen, so blieb ich doch in der Nacht und im Schlaf stets innig zu Hause, entschlummerte auch ohne körperliche Ermüdung leicht und gern, verlor mich weit in ein traumloses Vergessen und erwachte nach langer, zehn-, zwölf-, ja vierzehnstündiger Versunkenheit erquickt und befriedigter als durch die Erfolge und Genugtuungen des Tages. Man könnte in dieser ungewöhnlichen Schlaflust einen Widerspruch zu dem großen Lebens- und Liebesdrange erblicken, der mich Beseelte und von dem angehörigem Orte noch zu sprechen sein wird. Allein ich ließ schon einfließen, daß ich diesem Punkte wiederholt ein angestrengtes Nachdenken gewidmet habe, und mehrmals habe ich deutlich zu verstehen geglaubt, daß es sich hier nicht um einen Gegensatz, sondern vielmehr um eine verborgene Zusammengehörigkeit und Übereinstimmung handelt. Jetzt nämlich, wo ich, obgleich erst vierzigjährig, gealtert und müde bin, wo kein begieriges Gefühl mich mehr zu den Menschen drängt und ich gänzlich auf mich selbst zurückgezogen dahinlebe: jetzt erst ist auch meine Schlafkraft erlahmt, jetzt erst bin
ich dem Schlafe gewissermaßen entfremdet, ist mein Schlummer kurz, untief und flüchtig geworden, während ich vormals im Zuchthause, wo viel Gelegenheit dazu war, womöglich noch besser schlief als in den weichlichen Betten der Palasthotels. – Aber ich verfalle in meinen alten Fehler des Voraneilens. Oft hörte ich aus dem Munde der Meinen, daß ich ein Sonntagskind sei, und obgleich ich fern von allem Aberglauben erzogen worden bin, habe ich doch dieser Tatsache, in Verbindung mit meinem Vornamen Felix (so wurde ich nach meinem Paten Schimmelpreester genannt) sowie mit meiner körperlichen Feinheit und Wohlgefälligkeit, immer eine geheimnisvolle Bedeutung beigemessen. Ja, der Glaube an mein Glück und daß ich ein Vorzugskind des Himmels sei, ist in meinem Innersten stets lebendig gewesen, und ich kann sagen, daß er im ganzen nicht Lügen gestraft worden ist. Stellt sich doch das eben als die bezeichnende Eigentümlichkeit meines Lebens dar, daß alles, was an Leiden und Qual darin vorgekommen, als etwas Fremdes und von der Vorsehung ursprünglich nicht Gewolltes erscheint, durch das meine wahre und eigentliche Bestimmung immerfort gleichsam sonnig hindurchschimmert. – Nach dieser Abschweifung ins Allgemeine fahre ich fort, das Gemälde meiner Jugend in großen Zügen zu entwerfen. Ein phantastisches Kind, gab ich mit meinen Einfällen und Einbildungen den Hausgenossen viel Stoff zur Heiterkeit. Ich glaube mich wohl zu erinnern, und oft ist es mir erzählt worden, daß ich, als ich noch Kleidchen trug, gerne spielte, daß ich der Kaiser sei, und auf dieser Annahme wohl stundenlang mit großer Zähigkeit bestand. In einem kleinen Stuhlwagen sitzend, worin meine Magd mich über die Gartenwege oder auf dem Hausflur umherschob, zog ich aus irgendeinem Grunde meinen Mund so weit wie möglich nach unten, so daß meine Oberlippe sich übermäßig verlängerte, und blinzelte langsam mit den Augen, die sich nicht nur infolge der Verzerrung, sondern auch vermöge meiner inneren Rührung röteten und mit Tränen füllten. Still und ergriffen von meiner Betagtheit und hohen Würde, saß ich im Wägelchen; aber meine Magd war gehalten, jeden Begegnenden von dem Tatbestande zu unterrichten, da eine Nichtachtung meiner Schrulle mich aufs äußerste erbittert haben würde. »Ich fahre hier den Kaiser spazieren«, meldete sie, indem sie auf unbelehrte Weise die flache Hand salutierend an die Schläfe legte, und jeder erwies mir Reverenz. Zumal mein Pate Schimmelpreester, stets zu Possen geneigt, war mir zu Willen, wenn er mich so antraf, und bestärkte mich auf alle Weise in meinem Dünkel. »Seht, da fährt er, der Heldengreis!« sagte er, indem er sich unnatürlich tief verbeugte. Und dann stellte er sich als Volk an meinen Weg und warf vivatschreiend seinen Hut, seinen Stock und selbst seine Brille in die Luft, um sich beinahe zu Schaden zu lachen, wenn mir vor Erschütterung die Tränen über die langgezogene Oberlippe rollten. Diese Art von Spiel pflegte ich noch in späteren Knabenjahren, zu einer Zeit also, da ich die Unterstützung der Erwachsenen dabei nicht wohl mehr fordern durfte. Doch vermißte ich sie nicht, sondern freute mich vielmehr der Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit meiner Einbildungskraft. Ich erwachte zum Beispiel eines Morgens mit dem Entschlusse, heute ein achtzehnjähriger Prinz namens Karl zu sein, und hielt an dieser Träumerei während des ganzen Tages, ja mehrere Tage lang fest; denn der unschätzbare Vorzug solchen Spieles bestand darin, daß es in keinem Augenblick und nicht einmal während der so überaus lästigen Schulstunden unterbrochen zu werden brauchte. Gekleidet in eine gewisse liebenswürdige Hoheit, ging ich umher, hielt heitere und angeregte Zwiesprache mit einem Gouverneur oder Adjutanten, den ich mir einbildungsweise beigab, und niemand beschreibt den Stolz und das Glück, mit dem das Geheimnis meiner feinen und erlauchten Existenz mich erfüllte. Welch eine herrliche Gabe ist nicht die Phantasie, und welchen Genuß vermag sie zu gewähren! Wie dumm und benachteiligt erschienen mir die anderen Knaben des Städtchens, denen dies Vermögen offenbar nicht zuteil geworden und die also unteilhaft der verschwiegenen Freuden waren, welche ich mühelos und ohne jede äußere Vorkehrung, durch einen einfachen Willensentschluß daraus zog! Jenen freilich, die gewöhnliche Burschen mit hartem Haar und roten
Händen waren, hätte es sauer werden und lächerlich zu Gesichte stehen mögen, hätten sie sich einreden wollen, Prinzen zu sein. Ich aber besaß seidenweiches Haar, wie man es nur selten beim männlichen Geschlechte findet, und welches, da es blond war, zusammen mit graublauen Augen, einen fesselnden Gegensatz zu der goldigen Bräune meiner Haut bildete: so, daß es gewissermaßen unbestimmt blieb, ob ich nun eigentlich blond oder brünett von Erscheinung sei, und man mich mit gleichem Rechte für beides ansprechen konnte. Meine Hände, auf die ich frühe achthatte, waren, ohne überschmal zu sein, angenehm im Charakter, niemals schweißig, sondern mäßig warm, trokken, mit geschmackvoll geformten Fingernägeln versehen und sich selbst ein Wohlgefallen; und meine Stimme hatte, schon bevor ich sie wechselte, etwas Schmeichelhaftes für das Ohr, so daß ich sie, wenn ich allein war, gern in glücklichen, gebärdenreichen, übrigens sinnlos kauderwelschen und nur täuschend angedeuteten Plaudereien mit meinem unsichtbaren Gouverneur erklingen ließ. Solche persönlichen Vorzüge sind meistens unwägbare Dinge, die nur in ihren Wirkungen zu bestimmen und selbst bei hervorragendem Geschick nur schwer in Worte zu fassen sind. Jedenfalls konnte mir nicht verborgen bleiben, daß ich aus edlerem Stoffe gebildet oder, wie man zu sagen pflegt, aus feinerem Holz geschnitzt war als meinesgleichen, und ich fürchte dabei durchaus nicht den Vorwurf der Selbstgefälligkeit. Das ist mir ganz einerlei, ob dieser oder jener mich der Selbstgefälligkeit anklagt, denn ich müßte ein Dummkopf oder Heuchler sein, wollte ich mich für Dutzendware ausgeben, und der Wahrheit gemäß wiederhole ich, daß ich aus dem feinsten Holze geschnitzt bin. Einsam aufwachsend (denn meine Schwester Olympia war mir um mehrere Lebensjahre voraus), neigte ich zu sonderbaren und spintisierenden Beschäftigungen, wofür ich sofort zwei Beispiele anführen werde. Erstens war ich auf eine grillenhafte Manier verfallen, die menschliche Willenskraft, diese geheimnisvolle und oft fast übernatürlicher Wirkungen fähige Macht, an mir zu üben und zu studieren. Man weiß, daß die Pupillen unseres Auges in ihren Bewegungen, welche in einer Verengerung und Erweiterung bestehen, abhängig sind von der Stärke des Lichtes, das sie trifft. Ich nun hatte es mir in den Kopf gesetzt, diese unwillkürliche Bewegung eigensinniger Muskeln unter den Einfluß meines Willens zu beugen. Vor meinem Spiegel stehend und indem ich jeden anderen Gedanken auszuschalten suchte, versammelte ich meine ganze innere Kraft auf den Befehl an meine Pupillen, sich nach meinem Belieben zusammenzuziehen oder zu erweitern, und meine hartnäckigen Übungen wurden, wie ich versichere, wirklich von Erfolg gekrönt. Anfangs gerieten unter den inneren Anstrengungen, die mir den Schweiß austrieben und mich die Farbe wechseln ließen, meine Pupillen nur in ein unregelmäßiges Flackern; später aber hatte ich es tatsächlich in meiner Gewalt, sie sich zu winzigen Pünktchen verengern oder zu großen, schwarz spiegelnden Kreisen sich ausdehnen zu lassen, und die Genugtuung, die dieser Erfolg mir gewährte, war fast schreckhafter Art und von einem Schauer vor den Geheimnissen der menschlichen Natur begleitet. Eine andere Grübelei, die damals oft meinen Geist unterhielt und noch heute nicht an Reiz und Sinn für mich verloren hat, bestand in folgendem. Was ist förderlicher: –fragte ich mich –, daß man die Welt klein oder daß man sie groß sehe? Und dies war so gemeint: Große Männer, dachte ich, Feldherren, überlegene Staatsköpfe, Eroberer- und Herrschernaturen jeder Art, welche sich gewaltig über die Menschen erheben, müssen wohl so beschaffen sein, daß die Welt ihnen klein wie ein Schachbrett erscheint, da sie sonst die Rücksichtslosigkeit und Kälte nicht hätten, keck und unbekümmert um das Einzelwohl und –wehe nach ihren übersichtlichen Plänen damit zu schalten. Andererseits aber kann eine solche verringernde Ansicht unzweifelhaft leicht bewirken, daß man es im Leben zu gar nichts bringe; denn wer Welt und Menschen für wenig oder nichts achtet und sich früh mit ihrer Belanglosigkeit durchdringt, wird geneigt sein, in Gleichgültigkeit und Trägheit zu versinken und einen vollkommenen Ruhestand jeder Wirkung auf die Gemüter verachtungsvoll vorzuziehen – abgesehen davon, daß er
durch seine Fühllosigkeit, seinen Mangel an Teilnahme und Bemühung überall anstoßen, die selbstbewußte Welt auf Schritt und Tritt beleidigen und sich so die Wege auch zu unwillkürlichen Erfolgen abschneiden wird. Ist es, fragte ich mich, also ratsamer, daß man in Welt und Menschenwesen etwas Großes, Herrliches und Wichtiges erblicke, das jedes Eifers, jeder dienenden Anstrengung wert ist, um ein wenig Ansehen und Wertschätzung darin zu erlangen? Dagegen spricht, daß man mit dieser vergrößernden und respektvollen Sehart leicht der Selbstunterschätzung und Verlegenheit anheimfällt, so daß dann die Welt über den ehrfürchtig blöden Knaben mit Lächeln hinweggeht, um sich männlichere Liebhaber zu suchen. Allein auf der anderen Seite bietet eine solche Gläubigkeit und Weltfrömmigkeit doch auch große Vorteile. Denn wer alle Dinge und Menschen für voll und wichtig nimmt, wird ihnen nicht nur dadurch schmeicheln und sich somit mancher Förderung versichern, sondern er wird auch sein ganzes Denken und Gebaren mit einem Ernst, einer Leidenschaft, einer Verantwortlichkeit erfüllen, die, indem sie ihn zugleich liebenswürdig und bedeutend macht, zu den höchsten Erfolgen und Wirkungen führen kann. – So sinnierte ich und erwog das Für und Wider. Übrigens habe ich es unwillkürlich und meiner Natur gemäß stets mit der zweiten Möglichkeit gehalten und die Welt für eine große und unendlich verlockende Erscheinung geachtet, welche die süßesten Seligkeiten zu vergeben hat und mich jeder Anstrengung und Werbung in hohem Grade wert und würdig deuchte.
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Forsche ich nun in meiner Seele nach weiteren Jugendeindrücken, so habe ich des Tages zu gedenken, da ich die Meinen zum erstenmal nach Wiesbaden ins Theater begleiten durfte. Übrigens muß ich hier einschalten, daß ich mich bei der Schilderung meiner Jugend nicht ängstlich an die Jahresfolge halte, sondern diese Lebensperiode als ein Ganzes behandle, worin ich mich nach Belieben bewege. Als ich meinem Paten Schimmelpreester als Griechengott Modell stand, war ich sechzehn bis achtzehn Jahre alt und also beinahe ein Jüngling, obschon in der Schule sehr rückständig. Aber mein erster Theaterbesuch fällt in ein früheres Jahr, nämlich in mein vierzehntes – immerhin also in eine Zeit, als meine körperliche und geistige Reife (wie gleich noch weiter auszuführen sein wird) schon weit vorgeschritten und meine Empfänglichkeit für Eindrücke sogar besonders lebhaft zu nennen war. In der Tat haben sich die Beobachtungen dieses Abends meinem Gemüt tief eingeprägt und mir zu unendlichem Nachsinnen Stoff gegeben. Wir hatten vorher ein Wiener Café besucht und dort süßen Punsch getrunken, während mein Vater Absinth durch einen Strohhalm zu sich genommen hatte, was alles bereits geeignet gewesen war, mich im tiefsten zu bewegen. Aber wer beschreibt das Fieber, das sich meiner Natur bemächtigte, als eine Droschke uns an das Ziel meiner Neugier getragen und der erleuchtete Logensaal uns aufgenommen hatte! Die Frauen, die sich in den Balkons den Busen fächelten; die Herren, die sich plaudernd über sie neigten; die summende Versammlung im Parkett, zu der wir gehörten; die Düfte, die aus Haaren und Kleidern quollen und sich mit dem Geruch des Leuchtgases vermischten; das sanft verworrene Getöse des stimmenden Orchesters; die üppigen Malereien an der Saaldecke und auf dem Vorhang, die eine Menge entblößter Genien, ja ganze Kaskaden von rosigen Verkürzungen zeigten: wie sehr war das alles danach angetan, 20 die jungen Sinne zu öffnen und den Geist für außerordentliche Empfängnisse vorzubereiten! Eine solche Vereinigung von Menschen in hohem, prunkvollem Kronensaal hatte ich bis dahin nur in der Kirche gesehen, und in der Tat erschien mir das Theater, dieser feierlich gegliederte Raum, wo an erhöhtem 25 und verklärtem Orte berufene Personen, bunt gekleidet und von Musik umwoben, ihre vorgeschriebenen Schritte und Tänze, Gespräche, Gesänge und Handlungen vollführten: in der Tat, sage ich, erschien mir das Theater als eine Kirche des Vergnügens, als eine Stätte, wo erbauungsbedürftige Menschen, 30 im Schatten versammelt gegenüber einer Sphäre der Klarheit und der Vollendung, mit offenem Munde zu den Idealen ihres Herzens emporblickten. Man spielte ein Stück von bescheidenem Genre, ein Werk der leichtgeschürzten Muse, wie man wohl sagt, eine Operette, deren Namen ich zu meinem Leidwesen vergessen habe. Die Handlung begab sich zu Paris (was die Stimmung meines armen Vaters sehr erhöhte), und in ihrem Mittelpunkt stand ein junger Müßiggänger oder Gesandtschaftsattaché, ein bezaubernder Schwerenöter und Schürzenjäger, der von dem Stern des Theaters, einem überaus beliebten Sänger namens Müller Rosé, zur Darstellung gebracht wurde. Ich erfuhr seinen persönlichen Namen durch meinen Vater, der sich seiner Bekanntschaft erfreute, und sein Bild wird ewig in meinem Gedächtnis fortleben. Es ist anzunehmen, daß er jetzt alt und abgenutzt ist, gleich mir selbst; allein wie er damals die Menge und mich zu blenden, zu entzücken verstand, das gehört zu den entscheidenden Eindrücken meines Lebens. Ich sage: zu blenden, und ich werde etwas weiter unten erklären, wieviel Sinn dieses Wort hier umschließt. Vorderhand werde ich die Bühnenerscheinung Müller-Rosés aus lebhafter Erinnerung nachzumalen versuchen. Bei seinem ersten Auftreten war er schwarz gekleidet, und dennoch ging eitel Glanz von ihm aus. Dem Spiele nach kam er von einem Treffpunkt der Lebewelt und war ein wenig betrunken, was er in angenehmen Grenzen, auf eine verschönte und veredelte Weise vorzutäuschen verstand. Er trug einen schwarzen, mit Atlas ausgeschlagenen Pelerinenmantel, Lackschuhe zu schwarzen Frackhosen, weiße
Glacés und auf dem schimmernd frisierten Kopf, dessen Scheitel nach damaliger militärischer Mode bis zum Nacken durchgezogen war, einen Zylinderhut. Das alles war vollkommen, vom Bügeleisen im Sitz befestigt, von einer Unberührtheit, wie sie im wirklichen Leben nicht eine Viertelstunde lang zu bewahren wäre, und sozusagen nicht von dieser Welt. Besonders der Zylinder, der ihm auf leichtlebige Art schief in der Stirn saß, war in der Tat das Traum- und Musterbild seiner Art, ohne Stäubchen noch Rauheit, mit idealischen Glanzlichtern versehen, durchaus wie gemalt, – und dem entsprach das Gesicht dieses höheren Wesens, ein Gesicht, das wie aus dem feinsten Wachs gebildet erschien. Es war zart rosenfarben und zeigte mandelförmige, schwarz umrissene Augen, ein kurzes, gerades Näschen sowie einen überaus klar gezeichneten und korallenroten Mund, über dessen bogenförmig geschwungener Oberlippe sich ein abgezirkeltes, ebenmäßiges und wie mit dem Pinsel gezogenes Schnurrbärtchen wölbte. Elastisch taumelnd, wie man es in der gemeinen Wirklichkeit an Betrunkenen nicht beobachten wird, überließ er Hut und Stock einem Bedienten, entglitt seinem Mantel und stand da im Frack, mit reich gefältelter Hemdbrust, in welcher Diamantknöpfe blitzten. Mit silberner Stimme sprechend und lachend, entledigte er sich auch seiner Handschuhe, und man sah, daß seine Hände außen mehlweiß und ebenfalls mit Brillanten geziert, ihre Innenflächen aber so rosig wie sein Antlitz waren. An der einen Seite der Rampe trällerte er den ersten Vers eines Liedes, das die außerordentliche Leichtigkeit und Heiterkeit seines Lebens als Attaché und Schürzenjäger schilderte, tanzte alsdann, die Arme selig ausgebreitet und mit den Fingern schnalzend, zur anderen Seite und sang dort den zweiten Vers, worauf er abtrat, um sich vom Beifall zurückrufen zu lassen und vor dem Souffleurkasten den dritten Vers zu singen. Dann griff er mit sorgloser Anmut in die Geschehnisse ein. Dem Stücke zufolge war er sehr reich, was seiner Gestalt eine bezaubernde Folie verlieh. Man sah ihn bei fortschreitender Handlung in verschiedenen Toiletten: in schneeweißem Sportanzug mit rotem Gürtel, in reicher Phantasie-Uniform, ja gelegentlich einer ebenso heiklen wie zwerchfellerschütternden Verwicklung sogar in Unterhosen aus himmelblauer Seide. Man sah ihn in kühnen, übermütigen, bestrickend abenteuerlichen Lebenslagen: zu den Füßen einer Herzogin, beim Champagner-Souper mit zwei anspruchsvollen Freudenmädchen, mit erhobener Pistole, bereit zum Duell mit einem von Grund aus albernen Nebenbuhler. Und keine dieser eleganten Strapazen konnte seiner Makellosigkeit etwas anhaben, seine Bügelfalten zerrütten, seine Glanzlichter auslöschen, seine rosige Miene unangenehm erhitzen. Zugleich gefesselt und gehoben durch die musikalischen Vorschriften, die theatralischen Förmlichkeiten, aber frei, keck und leicht innerhalb der Gebundenheit, war sein Benehmen von einer Anmut, der nichts Fahrlässig-Alltägliches anhaftete. Sein Körper schien bis in das letzte Fingerglied von einem Zauber durchdrungen, für den nur die unbestimmte Bezeichnung »Talent« vorhanden ist und der ihm offensichtlich ebensoviel Genuß bereitete wie uns allen. Zu sehen, wie er die silberne Krücke seines Stockes mit der Hand umfaßte oder beide Hände in die Hosentaschen gleiten ließ, gewährte inniges Vergnügen; seine Art, sich aus einem Sessel zu erheben, sich zu verbeugen, auf- und abzutreten, war von einer Selbstgefälligkeit, die das Herz mit Lebensfreude erfüllte. Ja, dies war es: Müller-Rosé verbreitete Lebensfreude, – wenn anders dies Wort das köstlich schmerzhafte Gefühl von Neid, Sehnsucht, Hoffnung und Liebesdrang bezeichnet, wozu der Anblick des Schönen und Glücklich-Vollkommenen die Menschenseele entzündet. Das Parkettpublikum, das uns umgab, setzte sich aus Bürgern und Bürgersfrauen, Kommis, einjährig dienenden jungen Leuten und kleinen Blusenmädchen zusammen, und so unaussprechlich ich ergötzt war, besaß ich doch Gegenwärtigkeit und Neugier genug, umherzuschauen, mich nach den Wirkungen umzutun, welche die Darbietungen der Bühne auf die Genossen meines Vergnügens ausübten, und die Mienen der Umsitzenden mit Hilfe meiner eigenen Empfindungen zu deuten. Der Ausdruck dieser Mienen war töricht und wonnig.
Ein gemeinsames Lächeln blöder Selbstvergessenheit umspielte alle Lippen, und wenn es bei den kleinen Blusenmädchen süßer und erregter war, bei den Frauen die Eigenart einer mehr schläfrigen und trägen Hingabe aufwies, so sprach es dafür bei den Männern von jenem gerührten und andächtigen Wohlwollen, mit welchem schlichte Väter auf glänzende Söhne blikken, deren Existenz sich weit über ihre eigene erhoben hat, und in denen sie die Träume ihrer eigenen Jugend verwirklicht sehen. Was die Kommis und Einjährigen betraf, so stand alles in ihren aufwärts gewandten Gesichtern weit offen, die Augen, die Nasenlöcher und die Münder. Und dabei lächelten sie. Wenn wir in unseren Unterhosen dort oben stünden, mochten sie denken – wie würden wir bestehen? Und wie keck und ebenbürtig er mit zwei so anspruchsvollen Freudenmädchen verkehrt! – Wenn Müller-Rosé vom Schauplatze abtrat, so fielen die Schultern hinab und eine Kraft schien von der Menge zu weichen. Wenn er, erhobenen Armes einen hohen Ton aushaltend, in sieghaftem Sturmschritt vom Hintergrunde zur Rampe vordrang, so schwollen die Busen ihm entgegen, daß die Atlastaillen der Frauen in den Nähten krachten. Ja, diese ganze beschattete Versammlung glich einem ungeheuren Schwarme von nächtlichen Insekten, der sich stumm, blind und selig in eine strahlende Flamme stürzt. Mein Vater unterhielt sich königlich. Er hatte nach französischer Sitte Hut und Stock mit in den Saal genommen. Jenen setzte er auf, sobald der Vorhang gefallen war, und mit diesem beteiligte er sich an dem frenetischen Applaus, indem er laut und andauernd damit auf den Boden stieß. »C’est épatant!« sagte er mehrmals ganz schwach und hingenommen. Allein nach Schluß der Vorstellung, draußen auf dem Gange, als alles vorüber war und um uns her die berauschten und innerlich gesteigerten Kommis in der Art, wie sie gingen, sprachen, ihre roten Hände betrachteten und ihre Stöcke handhabten, dem Helden des Abends nachzuahmen suchten, sagte mein Vater zu mir: »Komm mit, wir wollen ihm doch die Hand schütteln. Gott, als ob wir nicht genaue Bekannte wären, Müller und ich! Er wird enchantiert sein, mich wiederzusehen.« Und nachdem er unseren Damen befohlen hatte, in der Vorhalle auf uns zu warten, brachen wir wirklich auf, um Müller-Rosé zu begrüßen. Unser Weg führte uns durch die zunächst der Bühne gelegene und schon finstere Loge des Theaterdirektors, von wo wir durch eine schmale Eisentür hinter die Kulissen gelangten. Das Halbdunkel des Schauplatzes war spukhaft belebt von räumenden Arbeitern. Eine kleine Person in roter Livree, die im Stücke einen Liftjungen dargestellt hatte und in irgendwelche Gedanken versunken mit der Schulter an der Wand lehnte, kniff mein armer Vater scherzend dort, wo sie am breitesten war, und fragte sie nach der gesuchten Garderobe, worauf sie uns übellaunig die Richtung wies. Wir durchmaßen einen getünchten Gang, in dessen eingeschlossener Luft offene Gasflammen brannten. Schimpfen, Lachen und Schwatzen drang durch mehrere Türen, die auf den Korridor mündeten, und mein Vater machte mich heiter lächelnd mit dem Daumen auf diese Lebensäußerungen aufmerksam. Aber wir schritten weiter bis zur letzten, an der unteren Schmalseite des Ganges gelegenen Tür, und dort klopfte mein Vater, indem er sein Ohr zu dem pochenden Knöchel hinabbeugte. Man antwortete drinnen: »Wer da?« oder: »Was, zum Deibel!« Ich erinnere mich nicht genau des hellen, aber unwirschen Anrufs. »Darf man eintreten?« fragte mein Vater; worauf es antwortete, daß man vielmehr etwas anderes, in diesen Blättern nicht Wiederzugebendes tun dürfe. Mein Vater lächelte still und verschämt und versetzte: »Müller, ich bin es – Krull, Engelbert Krull. Man wird Ihnen doch wohl noch die Hand schütteln dürfen!« Da lachte es drinnen und sprach: »Ach, du bist es, altes Sumpfhuhn! Na, immer ’rein ins Vergnügen! – Sie werden ja wohl«, hieß es weiter, als wir zwischen Tür und Angel standen, »nicht Schaden nehmen durch meine Blöße.« Wir traten ein, und ein Anblick von unvergeßlicher Widerlichkeit bot sich dem Knaben dar. An einem schmutzigen Tisch und vor einem staubigen und beklecksten Spiegel saß Müller-Rosé, nichts weiter am Leibe als eine Unterhose aus grauem Trikot. Ein Mann in Hemdärmeln bearbeitete des Sängers Rücken, der in Schweiß gebadet schien, mit einem Handtuch, indes er selber Gesicht und Hals,
die dick mit glänzender Salbe beschmiert waren, vermittels eines weiteren, von farbigem Fett schon starrenden Tuches abzureiben beschäftigt war. Die eine Hälfte seines Gesichtes war noch bedeckt mit jener rosigen Schicht, die sein Antlitz vorhin so wächsern idealisch hatte erscheinen lassen, jetzt aber lächerlich rot-gelb gegen die käsige Fahlheit der anderen, schon entfärbten Gesichtshälfte abstach. Da er die schön kastanienbraune Perücke mit durchgezogenem Scheitel, die er als Attaché getragen, abgelegt hatte, erkannte ich, daß er rothaarig war. Noch war sein eines Auge schwarz ummalt, und metallisch schwarz glänzender Staub haftete in den Wimpern, indes das andere nackt, wässerig, frech und vom Reiben entzündet den Besuchern entgegenblinzelte. Das alles jedoch hätte hingehen mögen, wenn nicht Brust, Schultern, Rücken und Oberarme Müller-Rosés mit Pickeln besät gewesen wären. Es waren abscheuliche Pickel, rot umrändert, mit Eiterköpfen versehen, auch blutend zum Teil, und noch heute kann ich mich bei dem Gedanken daran eines Schauders nicht erwehren. Unsere Fähigkeit zum Ekel ist, wie ich anmerken möchte, desto größer, je lebhafter unsere Begierde ist, das heißt: je inbrünstiger wir eigentlich der Welt und ihren Darbietungen anhangen. Eine kühle und lieblose Natur wird niemals vom Ekel geschüttelt werden können, wie ich es damals wurde. Denn zum Überfluß herrschte in dem von einem eisernen Ofen überheizten Raum eine Luft – eine aus Schweißgeruch und den Ausdünstungen der Näpfe, Tiegel und farbigen Fettstangen, die den Tisch bedeckten, zusammengesetzte Atmosphäre, daß ich anfangs nicht glaubte, ohne unpäßlich zu werden, länger als eine Minute darin atmen zu können. Dennoch stand ich und schaute – und habe weiter nichts Tatsächliches über unseren Besuch in Müller- Rosés Garderobe beizubringen. Ja, ich müßte mir vorwerfen, um nichts und wieder nichts so eingehend von meinem ersten Theaterbesuch gehandelt zu haben, wenn ich meine Erinnerungen nicht in erster Linie zu meiner eigenen Unterhaltung und erst in zweiter zu der des Publikums niederschriebe. Auf Spannung und Proportion richte ich gar kein Augenmerk und überlasse diese Rücksichten solchen Verfassern, die aus der Phantasie schöpfen und aus erfundenem Stoff schöne und regelmäßige Kunstwerke herzustellen bemüht sind, während ich lediglich mein eigenes, eigentümliches Leben vortrage und mit dieser Materie nach Gutdünken schalte. Bei Erfahrungen und Begegnissen, denen ich eine besondere Belehrung und Aufklärung über mich und die Welt verdanke, verweile ich lange und führe jede Einzelheit mit spitzem Pinsel aus, während ich über anderes, was mir weniger teuer ist, leicht hinweggleite. Was damals zwischen Müller-Rosé und meinem armen Vater geplaudert wurde, ist meinem Gedächtnis fast ganz entschwunden, und zwar wahrscheinlich deshalb, weil ich nicht Zeit fand, darauf achtzuhaben. Denn die Bewegung, die unserem Geist durch die Sinne mitgeteilt wird, ist unzweifelhaft viel stärker als die, welche das Wort darin erzeugt. Ich erinnere mich, daß der Sänger, obgleich doch der begeisterte Beifall des Publikums ihn seines Triumphes hätte müssen versichert haben, unaufhörlich fragte, ob er gefallen, in welchem Grade er gefallen habe – und wie sehr verstand ich seine Unruhe! Ferner schweben mir einige Witze in vulgärem Geschmacke vor, die er ins Gespräch flocht, wie er denn zum Beispiel auf irgendeine Neckerei meines Vaters antwortete: »Halten Sie die Schnauze!« um sofort hinzuzufügen: »oder die Pfoten für das Schmackhaftere?« Aber diesen und anderen Äußerungen seines Geistes lieh ich, wie gesagt, nur ein halbes Ohr, tief angestrengt beschäftigt, wie ich war, das Erlebnis meiner Sinne innerlich aufzuarbeiten. Dies also – so etwa gingen damals meine Gedanken –, dies verschmierte und aussätzige Individuum ist der Herzensdieb, zu dem soeben die graue Menge sehnsüchtig emporträumte! Dieser unappetitliche Erdenwurm ist die wahre Gestalt des seligen Falters, in welchem eben noch tausend betrogene Augen die Verwirklichung ihres heimlichen Traumes von Schönheit, Leichtigkeit und Vollkommenheit zu erblicken glaubten! Ist er nicht ganz wie eines jener eklen Weichtierchen, die, wenn ihre abendliche Stunde kommt, märchenhaft zu glühen befähigt sind? Die erwachsenen und im üblichen Maße
lebenskundigen Leute aber, die sich so willig, ja gierig von ihm betören ließen, mußten sie nicht wissen, daß sie betrogen wurden? Oder achteten sie in stillschweigendem Einverständnis den Betrug nicht für Betrug? Letzteres wäre möglich; denn genau überdacht: wann zeigt der Glühwurm sich in seiner wahren Gestalt, – wenn er als poetischer Funke durch die Sommernacht schwebt, oder wenn er als niedriges, unansehnliches Lebewesen sich auf unserem Handteller krümmt? Hüte dich, darüber zu entscheiden! Rufe dir vielmehr das Bild zurück, das du vorhin zu sehen glaubtest: diesen Riesenschwarm von armen Motten und Mücken, der sich still und toll in die lockende Flamme stürzte! Welche Einmütigkeit in dem guten Willen, sich verführen zu lassen! Hier herrscht augenscheinlich ein allgemeines, von Gott selbst der Menschennatur eingepflanztes Bedürfnis, dem die Fähigkeiten des Müller-Rosé entgegenzukommen geschaffen sind. Hier besteht ohne Zweifel eine für den Haushalt des Lebens unentbehrliche Einrichtung, als deren Diener dieser Mensch gehalten und bezahlt wird. Wieviel Bewunderung gebührt ihm nicht für das, was ihm heute gelang und offenbar täglich gelingt! Gebiete deinem Ekel und empfinde ganz, daß er es vermochte, sich in dem geheimen Bewußtsein und Gefühl dieser abscheulichen Pickel mit so betörender Selbstgefälligkeit vor der Menge zu bewegen, ja, unterstützt freilich durch Licht und Fett, Musik und Entfernung, diese Menge das Ideal ihres Herzens in seiner Person erblicken zu lassen und sie dadurch unendlich zu erbauen und zu beleben! Empfinde noch mehr! Frage dich, was den abgeschmackten Witzbold trieb, diese abendliche Verklärung seiner selbst zu erlernen! Frage dich nach den geheimen Ursprüngen des Gefälligkeitszaubers, der vorhin seinen Körper bis in die Fingerspitzen durchdrang und beherrschte! Um dir antworten zu können, brauchst du dich nur zu erinnern (denn du weißt es gar wohl!), welche unnennbare, mit Worten nicht ungeheuerlich süß genug zu bezeichnende Macht es ist, die den Glühwurm das Leuchten lehrt. Beachte doch, wie der Mensch sich nicht satt hören kann an der Versicherung, daß er gefallen, daß er wahrhaftig über die Maßen gefallen hat! Lediglich der Hang und Drang seines Herzens zu jener bedürftigen Menge hat ihn zu seinen Künsten geschickt gemacht; und wenn er ihr Lebensfreude spendet, sie ihn dafür mit Beifall sättigt, ist es nicht ein wechselseitiges Sich- Genüge-Tun, eine hochzeitliche Begegnung seiner und ihrer Begierden?
Zweites Buch
- Seite 71-73 (Erstes Kapitel) Erstes Kapitel Lange haben diese Papiere unter Verschluß geruht; wohl ein Jahr lang hielten Unlust und Zweifel an der Ersprießlichkeit meiner Unternehmung mich ab, in treusinniger Folge Blatt auf Blatt schichtend, meine Bekenntnisse fortzuführen. Denn obgleich ich auf den vorstehenden Seiten mehrfach versichert habe, daß ich diese Denkwürdigkeiten hauptsächlich und in erster Linie zu meiner eigenen Unterhaltung und Beschäftigung aufzeichne, so will ich nur auch in diesem Betreff der Wahrheit die Ehre geben und freimütig eingestehen, daß ich insgeheim und gleichsam aus dem Augenwinkel beim Schreiben doch auch der lesenden Welt einige Rücksicht zuwende und ohne die stärkende Hoffnung auf ihre Teilnahme, ihren Beifall, wahrscheinlich nicht einmal die Beharrlichkeit besessen haben würde, meine Arbeit nur bis zum gegenwärtigen Punkte zu fördern. Da aber mußte ich mir denn die Frage vorlegen, ob wahrhaftige und bescheiden der Wirklichkeit sich anschließende Vertraulichkeiten aus meinem Leben mit den Erfindungen der Schriftsteller würden wetteifern können: nämlich um die Gunst eines Publikums, welches man sich durch so krasse Kunsterzeugnisse nicht übersättigt und abgestumpft genug denken kann. Weiß doch der Himmel, sprach ich mit mir selbst, welche Reizungen und Erschütterungen man sich von einem Schriftwerke gewärtigt, das sich durch seine Aufschrift den Kriminalromanen und Detektivgeschichten an die Seite zu stellen scheint, – während doch meine Lebensgeschichte zwar seltsam und öfters traumähnlich sich anläßt, aber der Knalleffekte und aufregenden Verwicklungen gänzlich entbehrt! Und so glaubte ich den Mut sinken lassen zu müssen. Heute jedoch kamen mir durch einen Zufall die vorliegenden Aufsätze wieder vor Augen; nicht ohne Rührung durchlief ich aufs neue die Chronik meiner Kindheit und ersten Jugend; belebt, spann ich im Geiste an meinen Erinnerungen fort; und indem gewisse hervorstehende Momente meiner Laufbahn 5 sich aufs gegenwärtigste mir wieder vorstellten, konnte ich unmöglich umhin, zu denken, daß Einzelheiten, welche auf mich selbst eine so aufmunternde Wirkung ausüben, auch eine öffentliche Leserschaft müßten zu unterhalten imstande sein. Rufe ich mir beispielsweise jene Lebenslage zurück, als ich in einer berühmten Residenz des Reiches unter dem Namen eines belgischen Aristokraten in vornehmer Gesellschaft mit dem ebenfalls anwesenden Polizeidirektor, einem ungewöhnlich humanen und herzenskundigen Mann, bei Kaffee und Zigarre über Hochstaplerwesen und strafrechtliche Fragen plauderte; oder gedenke ich, um nur irgend etwas zu nennen, der Schicksalsstunde meiner ersten Verhaftung, als unter den eintretenden Kriminalbeamten sich ein junger Neuling befand, welcher, erregt durch die Größe des Augenblicks und verwirrt durch die Pracht meines Schlafzimmers, an die offene Tür pochte, sich bescheiden die Füße abstreifte und leise »Ich bin so frei« sagte, weswegen er von dem dicken Anführer der Gruppe einen wütenden Blick erhielt: so kann ich mich der freudigen Hoffnung nicht verschließen, daß meine Eröffnungen, sollten sie auch von den Fabeln der Romanschreiber in Hinsicht auf gröbere Aufregung und Befriedigung der gemeinen Neugier in den Schatten gestellt werden, ihnen dafür durch eine gewisse feine Eindringlichkeit und edle Wahrhaftigkeit desto sicherer den Rang ablaufen werden. Demgemäß also hat sich mir aufs neue die Lust entzündet, diese Denkschrift fortzusetzen und zu vollenden; und ich beabsichtige, mir dabei, was Reinlichkeit des Stiles und Schicklichkeit des Ausdrucks betrifft, womöglich eine noch größere Sorgfalt aufzuerlegen als bisher, um auch in den besten Häusern mit meinen Darbietungen bestehen zu können.
Drittes Buch
- Seite 257-265 (Drittes Kapitel) Ich kann mein inneres Verhalten zur Welt, oder zur Gesellschaft, nicht anders als widerspruchsvoll bezeichnen. Bei allem Verlangen nach Liebesaustausch mit ihr eignete ihm nicht selten eine sinnende Kühle, eine Neigung zu abschätzender Betrachtung, die mich selbst in Erstaunen setzte. Ein Beispiel dafür ist der Gedanke, der mich zuweilen beschäftigte, wenn ich gerade, im Speisesaal oder in der Halle, die Hände mit der Serviette auf dem Rücken, einige Minuten müßig stand und die von den Blaufräcken umschwänzelte und verpflegte Hotel Gesellschaft überblickte. Es war der Gedanke der Vertauschbarkeit. Den Anzug, die Aufmachung gewechselt, hätten sehr vielfach die Bedienenden ebensogut Herrschaft sein und hätte so mancher von denen, welche, die Zigarette im Mundwinkel, in den tiefen Korbstühlen sich rekelten – den Kellner abgeben können. Es war der reine Zufall, daß es sich umgekehrt verhielt – der Zufall des Reichtums; denn eine Aristokratie des Geldes ist eine vertauschbare Zufallsaristokratie. Darum gelangen mir diese Gedankenexperimente öfters recht gut, wenn auch nicht immer, da ja erstens doch die Gewohnheit des Reichtums eine wenigstens oberflächliche Verfeinerung zeitigt, die mir das Spiel erschwerte, und zweitens in den polierten Pöbel der Hotel-Sozietät immer auch eigentliche, vom Gelde unabhängige, wenn auch mit Geld versehene Vornehmheit eingesprengt war. Zuweilen mußte ich geradezu mich selbst einsetzen und konnte niemanden sonst vom Kellner-Corps dazu brauchen, wenn der Rollentausch phantasieweise gelingen sollte: so in dem Fall eines wirklich angenehmen jungen Kavaliers von leichtem und sorglos-anmutigem Betragen, der, ohne im Hotel zu wohnen, nicht selten, ein-oder zweimal die Woche, bei uns zum Diner hospitierte, und zwar in meinem Rayon. Er hatte dann bei Machatschek, für dessen besondere Gunst er offenbar zu sorgen wußte, telefonisch ein einsitziges Tischchen bestellt, und jener pflegte mich im voraus mit den Augen auf das Gedeck hinzuweisen, indem er sagte: »Le Marquis de Venosta. Attention.« Auch mit mir stellte Venosta, der ungefähr meines Alters war, sich auf einen kordialen und ungezwungenen, beinahe freundschaftlichen Fuß. Ich sah ihn gern hereinkommen in seiner bequemen, unbekümmerten Manier, schob ihm den Stuhl zurecht, wenn Maître Machatschek das nicht etwa selber tat, und erwiderte mit der gebotenen Färbung von Ehrerbietung seine Frage nach meinem Ergehen. »Et vous, Monsieur le Marquis?« »Comme ci – comme ça. – Ißt man leidlich bei Ihnen heute abend?« »Commeci–Commeça,–und das will sagen: sehr gut, genau wie in Ihrem Fall, monsieur le Marquis.« »Farceur!« lachte er. »Sie wissen viel von meinem Wohlbefinden!« Hübsch war er weiter nicht, wenn auch von eleganter Erscheinung, mit sehr feinen Händen und nett onduliertem braunem Haar. Aber er hatte zu dicke, gerötete Kinderbacken und kleine, verschmitzte Äuglein darüber, die mir übrigens gut gefielen und deren anschlägige Lustigkeit die Melancholie Lügen strafte, die er manchmal an den Tag zu legen liebte. »Sie wissen viel von meinem Wohlbefinden, mon cher Armand, und haben leicht reden. Augenscheinlich sind Sie begabt für Ihr Métier und also glücklich, während mir sehr zweifelhaft ist, ob ich Talent habe zu dem meinen.« Er war nämlich Maler, studierte an der Académie des Beaux Arts und zeichnete Akt in dem Atelier seines Professors. Das und Weiteres ließ er mich wissen bei den abgerissenen kleinen Gesprächen, die zwischen uns stattfanden, während ich ihm sein Diner servierte, beim Vorlegen, beim Tellerwechseln,
und die mit freundlichen Erkundigungen von seiner Seite nach meiner Herkunft, meinen Umständen begonnen hatten. Diese Fragen gaben Zeugnis von seinem Eindruck, daß ich nicht der erste beste war, und ich beantwortete sie unter Vermeidung von Einzelheiten, die diesen Eindruck hätten abschwächen können. Abwechselnd sprach er deutsch und französisch mit mir bei diesem zerstückelten Austausch. Das erstere konnte er gut, da seine Mutter, »ma pauvre mére«, von deutschem Adel war. Er war in Luxemburg zu Hause, wo seine Eltern, »mes pauvres parents«, in der Nähe der Hauptstadt ein parkumgebenes Stammschloß aus dem siebzehnten Jahrhundert bewohnten, das nach seiner Angabe ganz so aussah wie die englischen Castles, die auf den Tellern abgebildet waren, worauf ich ihm seine zwei Bratenschnitten und sein Stück Eisbombe legte. Sein Vater war großherzoglicher Kammerherr »und all das«, hatte aber nebenbei, oder eigentlich wohl hauptsächlich, seine Hand in der Stahlindustrie und war also »hübsch reich«, wie Louis, der Sohn, naiv und mit einer Handbewegung hinzufügte, die besagte: »Was wollen Sie, daß der wäre! Hübsch reich ist er natürlich.« Als ob man es ihm und seiner Lebensweise, dem dicken goldenen Kettenarmband unter seiner Manschette mit den Edelsteinknöpfen und seinen Perlen in der Hemdbrust nicht angemerkt hätte! »Mes pauvres parents« hießen die Eltern also in seinem Munde aus empfindsamer Konvention, aber doch auch in einem gewissen wirklich bemitleidenden Sinn, weil sie nach seiner eigenen Meinung einen recht nichtsnutzigen Sohn hatten. Er hatte eigentlich an der Sorbonne die Rechtswissenschaft betreiben sollen, hatte aber dies Studium sehr bald aus übergroßer Langerweile fallenlassen und sich unter nur halber und bekümmerter Zustimmung derer in Luxemburg den schönen Künsten zugewandt – und das bei sehr geringem Glauben an seine Befähigung dazu. Aus seinen Worten ging hervor, daß er sich mit einer gewissen betrübten Selbstgefälligkeit als ein verzogenes Sorgenkind betrachtete, das seinen Eltern wenig Freude machte und, ohne daran etwas ändern zu können und zu wollen, ihnen nur zu recht gab in ihrer Besorgnis, daß er es auf nichts abgesehen habe als zu bummeln und sich bohèmehaft zu deklassieren. Was diesen zweiten Punkt betraf, so war, wie mir bald klar wurde, dabei nicht allein sein mutlos und lässig angestrebtes Künstlertum, sondern auch ein unstandesgemäßes Liebesengagement im Spiel. Von Zeit zu Zeit nämlich kam der Marquis zum Diner nicht allein, sondern auf allerliebste Weise zu zweit. Er hatte dann bei Machatschek einen größeren Tisch bestellt, den dieser mit Blumen besonders heiter hatte schmücken lassen, und erschien um sieben Uhr in Gesellschaft eines Persönchens, das nun wirklich ausnehmend hübsch war – ich konnte seinen Geschmack nicht beanstanden, obgleich es ein Geschmack für die beauté du diable und für das voraussichtlich rasch Vergängliche war. Vorläufig, in ihrer Jugendblüte, war Zaza – so nannte er sie – das reizendste Ding von der Welt, – Pariserin von Geblüt, type grisette, aber gehoben durch Abendkleider aus teueren Ateliers, weiß oder farbig, die er ihr natürlich hatte machen lassen, und durch raren alten Schmuck, der selbstverständlich auch sein Geschenk war, – eine voll-schlanke Brünette mit wunderschönen, immer entblößten Armen, einer etwas phantastisch gebauschten und den Nacken bedeckenden Frisur, die zuweilen durch ein sehr kleidsames, turbanartiges Kopftuch mit seitlich herabhängenden Silberfransen und einem Federaufsatz über der Stirn verhüllt war, – mit Stumpfnase, süßem Plappermäulchen und dem ausgepichtesten Augenspiel. Es war ein Vergnügen, das Pärchen zu bedienen, so wundervoll unterhielten sie sich bei ihrer Flasche Champagner, die immer, wenn Zaza mitkam, eintrat für die halbe Flasche Bordeaux, die Venosta trank, wenn er allein war. Kein Zweifel –und auch gar kein Wunder –, daß er bis zur Selbstvergessenheit und zur völligen Gleichgültigkeit gegen alle Beobachtung verliebt in sie war, behext von dem Anblick ihres appetitlichen Decolletés, ihrem Geplauder, den kleinen Zaubereien ihrer schwarzen Augen. Und sie – ich will es meinen, daß sie sich eine Zärtlichkeit gefallen ließ und sie vergnügt erwiderte, sie aufalle Weise anzufeuern suchte, mit der sie einfach das Große Los gezogen hatte und auf die sich so
glänzende Zukunftsspekulationen gründen ließen. Ich pflegte sie »Madame« anzureden; aber einmal, beim vierten oder fünften Mal, unternahm ich es, »madame la Marquise« zu ihr zu sagen, womit ich großen Effekt erzielte. Sie errötete vor freudigem Schrecken und warf ihrem Freunde einen fragenden Liebesblick zu, den seine lustigen Augen mit sich nahmen, während sie in einiger Verlegenheit auf seinen Teller niedergingen. Natürlich kokettierte sie auch mit mir, und der Marquis stellte sich eifersüchtig, obgleich er ihrer wahrhaftig sicher sein konnte. »Zaza, du wirst mich zur Raserei bringen – tu me feras voir rouge –, wenn du das Äugeln nicht läßt mit diesem Armand. Es würde dir nichts ausmachen, was, an einem Doppelmord die Schuld zu tragen, kombiniert mit einem Selbstmord ... Gesteh es nur, du hättest nichts dagegen, wenn er hier im Smoking mit dir am Tische säße und ich im blauen Frack euch bediente.« Wie seltsam, daß er von sich aus das stehende Gedankenexperiment meiner Muße, diesen stillen Versuch des Rollentausches in Worte faßte! Während ich jedem von beiden eine Menukarte zur Auswahl des Desserts überreichte, war ich keck genug, anstelle Zazas zu erwidern: »Da fiele Ihnen der schwierigere Part zu, Herr Marquis, denn die Kellnerei ist ein Handwerk, Marquis zu sein aber eine Existenz, pure et simple.« »Excellent!« rief sie lachend, aus dem Vergnügen ihrer Rasse am netten Wort. »Und Sie sind sicher«, wollte er wissen, »daß Sie der Existenz pure et simple besser gewachsen wären als ich dem Handwerk?« »Ich glaube, es wäre weder höflich noch zutreffend«, erwiderte ich, »Ihnen eine besondere Anlage zum Aufwärter zuzuschreiben, Herr Marquis.« Sie amüsierte sich sehr.
»Mais il est incomparable, ce gaillard!« »Deine Bewunderung wird mich töten«, sagte er mit theatralischer Verzweiflungsgebärde. »Und dabei ist er doch schließlich nur ausgewichen.« Ich ließ es dabei sein Bewenden haben und zog mich zurück. Der Abendanzug aber, worin er mich vorstellungsweise seinen Platz hatte einnehmen lassen, war vorhanden, – ganz kürzlich hatte ich ihn mir zugelegt und hielt ihn nebst anderen Dingen in einem Stübchen verborgen, das ich mir nun doch, nicht fern vom Hotel, in einem stillen Winkel des Zentrums gemietet hatte, nicht, um dort zu schlafen – das kam nur ganz ausnahmsweise vor –, sondern um meine Privatgarderobe dort aufzubewahren und mich ungesehen umkleiden zu können, wenn ich an meinen freien Abenden ein etwas höheres Leben führen wollte, als ich in Stankos Gesellschaft geführt. Das Haus, in dem ich gemietet hatte, lag in einer kleinen Cité, einem mit Gittertoren abgeschlossenen Häuserwinkel, in den man durch die schon stille Rue Boissy d’Anglas gelangte. Es gab da weder Läden noch Restaurants; nur ein paar kleine Hotels und Privathäuser von der Art, wo man durch die nach der Straße offenstehende Tür der Portiersloge die dicke Concierge wirtschaften sieht, und der Mann sitzt bei einer Flasche Wein,
daneben die Katze. In einem solchen Hause also war ich seit kurzem Aftermieter bei einer freundlichen, mir wohlgeneigten älteren Witib, die die Hälfte der zweiten Etage, ein Appartement von vier Zimmern, bewohnte. Eines davon hatte sie mir für ein mäßiges Monatsentgelt überlassen, – eine Art von kleinem Schlafsalon mit Feldbett und Marmorkamin, dem Spiegel darüber, der Pendule auf der Platte, wackeligem Polstermobiliar und verrußten Samtvorhängen an dem bis zum Boden reichenden Fenster, durch das man auf einen eng umbauten, in der Tiefe von den Glasdächern der Küchen gedeckten Hof
blickte. Darüber hinweg ging die Aussicht auf die Rückfronten vornehmer Häuser des Faubourg Saint- Honoré , wo man am Abend in erleuchteten Wirtschaftsräumen und Schlafzimmern Diener, Zofen und Köche umherwandeln sah. Dort drüben irgendwo, übrigens, residierte der Fürst von Monaco, und ihm
gehörte diese ganze friedliche kleine Cité, für die er, sobald ihm der Sinn danach stand, fünfundvierzig Millionen bekommen konnte. Dann würde sie abgerissen werden. Aber er schien das Geld nicht zu
brauchen, und so blieb ich, auf Abruf, Gast dieses Monarchen und Großcroupiers, ein Gedanke, dessen eigentümlichen Reiz ich nicht verkannte. Mein hübsches Ausgeh-Habit aus dem »Printemps« war in dem Schrank auf dem Gange vor dem Dortoir Nummer 4 an seinem Platz. Die neuen Errungenschaften aber, ein Smoking-Anzug, ein Abendmantel mit seidengefütterter Pelerine, bei dessen Auswahl ich unwillkürlich von einem immer frisch gebliebenen Jugendeindruck, der Erinnerung an Müller-Rosé als Attaché und Schürzenjäger, bestimmt gewesen war, dazu ein matter Zylinderhut und ein Paar Lackschuhe, hätte ich im Hotel nicht sehen lassen dürfen; ich hielt sie mir in dem »Cabinet de toilette« meines Mietszimmers bereit, einem tapezierten Verschlage, wo ein Kretonnevorhang sie beschützte, und etwas weiße Stärkwäsche, schwarzseidene Socken und Schleifenbinder lagen in der Louis Seize-Kommode des Zimmers. Der Gesellschaftsanzug mit seinen Atlasrevers war nicht gerade nach Maß gemacht, er war von der Stange weg gekauft und nur ein wenig adaptiert, saß aber meiner Figur so vollkommen, daß ich den Kenner hätte sehen mögen, der nicht geschworen hätte, er sei mir vom teuersten Schneider angemessen worden. Wozu legte ich ihn und die anderen schönen Dinge in der Stille meiner Privatwohnung an? Aber ich sagte es schon: um darin von Zeit zu Zeit, gleichsam versuchs- und übungsweise ein höheres Leben zu führen, in einem eleganten Restaurant der Rue de Rivoli, der Avenue des Champs-Élysées oder in einem Hotel vom Range des meinigen, einem noch feineren womöglich, im Ritz, im Bristol, im Meurice zu speisen und etwa nachher in einem guten Theater, sei es einem dem gesprochenen Drama geweihten oder der Opéra Comique, der Großen Oper selbst einen Logenplatz einzunehmen. Es lief dies, wie man sieht, auf eine Art von Doppelleben hinaus, dessen Anmutigkeit darin bestand, daß es ungewiß blieb, in welcher Gestalt ich eigentlich ich selbst und in welcher ich nur verkleidet war: wenn ich als livrierter Commis de salle den Gästen des Saint James and Albany schmeichlerisch aufwartete, oder wenn ich als unbekannter Herr von Distinktion, der den Eindruck machte, sich ein Reitpferd zu halten, und gewiß, wenn er sein Diner eingenommen, noch mehrere exklusive Salons besuchen würde, mich bei Tisch von Kellnern bedienen ließ, deren keiner, wie ich fand, mir in dieser meiner anderen Eigenschaft gleichkam. Verkleidet also war ich in jedem Fall, und die unmaskierte Wirklichkeit zwischen den beiden Erscheinungsformen, das Ich-selber-Sein, war nicht bestimmbar, weil tatsächlich nicht vorhanden. Ich will auch nicht sagen, daß ich einer der beiden Rollen, ich meine: der des Herrn von Distinktion, mit aller Bestimmtheit den Vorzug gegeben hätte. Ich bediente zu gut und erfolgreich, als daß ich mich unbedingt glücklicher hätte fühlen sollen, wenn ich der war, der sich bedienen ließ, – wozu übrigens ebensoviel natürlich überzeugende Anlage gehört wie zum anderen. Aber der Abend sollte kommen, der mich auf diese andere Anlage und Spielbegabung, diejenige zur Herrschaftlichkeit, entscheidend und auf freilich höchst beglückende, ja berauschende Art verwies.
- Seite 400-404 (Neuntes Kapitel)
Es folgte kein Spaziergang auf das damalige Frühstück, das eines unter vielen war, die ich während der kommenden Wochen im Heim der Kuckucks noch sollte genießen dürfen. Ausflüge in die Umgebung Lissabons schlossen sich an spätere an. Darüber einiges gleich weiter unten. Hier will ich nur noch der Freude gedenken, die mir, vierzehn bis achtzehn Tage nach Abgang des meinen, ein Brief meiner Frau Mutter bereitete, welchen bei meiner Rückkehr von einem Ausgange der Concierge mir überreichte. In deutscher Sprache geschrieben lautete er wie folgt: Victoria Marquise de Venosta ne´ e de Plettenberg
Schloß Monrefuge, den 3. Sept. 1895 Mein lieber Loulou!
Dein Brief vom 25. vorigen Monats ist Papa und mir richtig zuhanden gekommen, und beide danken wir Dir für Deine gewissenhafte und unstreitig interessante Ausführlichkeit. Deine Schrift, mein guter Loulou, ließ immer zu wünschen übrig und ist nach wie vor nicht ohne Manieriertheit, aber Dein Stil hat gegen früher entschieden an Gepflegtheit und angenehmer Politur gewonnen, was ich zum Teil dem mehr und mehr bei Dir sich geltend machenden Einfluß der wort- und esprit-freundlichen Pariser Atmosphäre zuschreibe, welche Du so lange geatmet hast. Außerdem ist es wohl eine Wahrheit, daß der Sinn für gute, gewinnende Form, der Dir stets zu eigen war, da wir ihn in Dich gepflanzt haben, eine Sache des ganzen Menschen ist und nicht bei den körperlichen Manieren haltmacht, sondern sich auf alle persönlichen Lebensäußerungen, also auch auf die schriftliche wie mündliche Ausdrucksweise erstreckt. Übrigens nehme ich nicht an, daß Du wirklich zu Seiner Majestät König Carl dermaßen rednerisch- elegant gesprochen hast, wie Dein Bericht vorgibt. Das ist gewiß eine briefstellerische Fiktion. Nichtsdestoweniger hast Du uns ein Vergnügen damit gemacht, und zwar vor allem durch die Gesinnungen, welche Du vorzutragen Gelegenheit nahmest, und mit denen Du Deinem Vater und mir ebenso nach dem Gemüte gesprochen hast wie dem hohen Herrn. Beide teilen wir vollkommen Deine Auffassung von der Gottgewolltheit der Unterschiede von Reich und Arm, Vornehm und Gering auf Erden und von der Notwendigkeit des Bettlerstandes. Wo bliebe auch die Gelegenheit zur Wohltätigkeit und zum guten Werke christlichen Sinnes, wenn es nicht Armut und Elend gäbe? Dies einleitend. Ich mache Dir kein Hehl daraus, und Du hast es ja auch nicht anders erwartet, daß Deine in der Tat etwas eigenwilligen Dispositionen, der beträchtliche Aufschub, den Deine Weiterreise nach Argentinien erlitten, uns zunächst ein wenig verstimmten. Aber wir haben uns damit abgefunden, ja ausgesöhnt, denn die Gründe, die Du dafür anführst, lassen sich wohl hören, und mit Recht darfst Du sagen, daß die Ergebnisse Deine Beschlüsse rechtfertigen. Natürlich denke ich dabei in erster Linie an die Verleihung des Ordens vom Roten Löwen, die Du der Gnade des Königs und Deinem einnehmenden Verhalten bei ihm verdankst und zu welcher Papa und ich Dir herzlich gratulieren. Das ist eine recht ansehnliche Dekoration, wie man sie in so jungen Jahren selten erwirbt, und die, obgleich zweiter Klasse, nicht zweitklassig zu nennen ist. Sie gereicht der ganzen Familie zur Ehre. Es ist von diesem schönen Ereignis auch in einem Briefe der Frau Irmingard von Hüon die Rede, den ich fast gleichzeitig mit dem Deinen empfing, und worin sie mir, an Hand der Berichte ihres Gatten, von Deinen gesellschaftlichen Erfolgen Mitteilung macht. Sie wünschte damit das Mutterherz zu erfreuen und hat diesen Zweck auch vollkommen erreicht. Trotzdem muß ich, ohne Dich kränken zu wollen, sagen, daß ich ihre Schilderungen, bzw. die des Gesandten, mit einigem Erstaunen las. Gewiß, ein Spaßvogel warst Du immer, aber solche parodistischen Talente und Gaben burlesker Travestie, daß Du eine ganze Gesellschaft, einschließlich eines prinzlichen Geblütes, damit in Lachen auflösen und einem sorgenbeladenen König das Herz damit zu einer fast unmajestätischen Lustigkeit befreien konntest, hätten wir Dir doch nicht zugetraut. Genug, Frau von Hüons Brief bestätigt Deine eigenen Angaben darüber, und auch hier ist einzuräumen, daß der Erfolg die Mittel rechtfertigt. Es sei Dir verziehen, mein Kind, daß Du Deinen Darstellungen Einzelheiten aus unserem häuslichen Leben zugrunde legtest, die besser unter uns geblieben wären. Minime liegt, während ich schreibe, in meinem Schoß und würde sich gewiß unserer Nachsicht anschließen, wenn man ihren kleinen Verstand mit der Sache befassen könnte. Du hast Dir arge Übertreibungen und groteske Lizenzen zuschulden kommen lassen bei Deiner Produktion und besonders Deine Mutter einem recht lächerlichen Lichte ausgesetzt durch die Schilderung, wie sie kläglich verunreinigt und halb ohnmächtig im Sessel liegt und der alte Radicule ihr mit Schaufel und Ascheneimer zu Hilfe kommen muß. Ich weiß nichts von einem Ascheneimer, er ist ein Erzeugnis Deines Eifers, zu unterhalten, der denn ja auch so
erfreuliche Früchte getragen hat, daß es am Ende nichts ausmachen darf, wenn er etwas von meiner persönlichen Würde mutwillig darangab. Dem Mutterherzen zugedacht waren zweifellos auch die Versicherungen Frau von Hüons, daß Du von allen Seiten als so besonders bildhübsch, ja geradezu als eine Jünglingsschönheit angesehen und bezeichnet wirst, was uns nun ebenfalls wieder bis zu einem gewissen Grade verwunderte. Du bist, geradezu gesprochen, ein netter Bursche und setzest Deinesteils Dein Äußeres herab, indem Du mit sympathischer Selbstverspottung von Borsdorfer Apfelbacken und Schlitzäuglein sprichst. Das ist gewiß ungerecht. Aber als eigentlich hübsch und schön kannst Du nicht gelten, nicht daß wir wüßten, und Complimente dieses Sinnes, die man mir macht, bringen mich einigermaßen aus der Fassung, wenn mir als Frau auch nicht unbekannt ist, wie sehr der Wunsch zu gefallen ein Äußeres von innen her zu erhöhen und zu verklären vermag, kurz, sich als Mittel erweisen kann, pour corriger la nature. Aber was spreche ich von Deinem Exterieur, das man hübsch oder nur passable nennen möge! Handelt es sich doch um Dein Seelenheil, Deine gesellschaftliche Rettung, um die wir Eltern zeitweise zu zittern hatten. Und da ist es uns denn eine wahre Herzenserleichterung, Deinem Brief, wie schon Deinem Telegramm, zu entnehmen, daß wir mit dieser Reise das rechte Mittel gefunden haben, Dein Gemüt aus dem Banne degradierender Wünsche und Projekte zu lösen, sie Dir im rechten Licht, nämlich in dem des Unmöglichen und Verderblichen erscheinen zu lassen und sie mitsamt der Person, die sie Dir zu unserer Beängstigung einflößte, in Vergessenheit zu versenken! Zuträgliche Umstände sind, Deinen Mitteilungen zufolge, dabei behilflich. Ich kann nicht umhin, in Deiner Begegnung mit jenem Professor und Museumsdirektor, dessen Name allerdings spaßig lautet, eine glückliche Fügung zu sehen und den Verkehr in seinem Hause als nutzbringend und hilfreich zu Deiner Heilung zu betrachten. Zerstreuung ist gut; desto besser aber, wenn sie sich mit einem Gewinn an Bildung und brillantem Wissen verbindet, wie er sich in Deinem Briefe, etwa durch das Gleichnis von der Seelilie (einem mir unbekannten Gewächs) oder durch Anspielungen auf die Naturgeschichte des Hundes und des Pferdes deutlich genug abzeichnet. Solche Dinge sind ein Schmuck jeder gesellschaftlichen Conversation und werden nie verfehlen, einen jungen Mann, der sie ohne Prätention und mit Geschmack einzuflechten weiß, angenehm zu distinguieren von solchen, denen etwa nur das Vokabular des Sports zur Verfügung steht. Womit nicht gesagt sein soll, daß wir von Deiner Wiederaufnahme des lange vernachlässigten Lawn-Tennis um Deiner Gesundheit willen nicht mit Befriedigung Kenntnis genommen hätten.
Wenn übrigens der Umgang mit den Damen des Hauses, Mutter und Tochter, deren Beschreibung Du mit einigen ironischen Lichtern versiehst, Dir weniger zusagt und zu geben hat als der mit dem gelehrten Hausherrn und seinem Gehilfen, so brauche ich Dich nicht zu ermahnen – möchte es aber hier mit doch getan haben –, sie Deine mindere Schätzung niemals merken zu lassen und ihnen stets mit der Ritterlichkeit zu begegnen, die ein Kavalier dem anderen Geschlecht unter allen Umständen schuldet. Und somit Glück auf, lieber Loulou! Wenn Du nun in etwa vier Wochen, nach Wiederkehr der »Cap Arcona«, zu Schiffe gehst, so werden unsere Gebete um eine glatte, Deinen Magen nicht einen Tag affizierende Überfahrt für Dich zum Himmel steigen. Die Verzögerung Deiner Reise bringt es mit sich, daß Du in den argentinischen Frühling einziehen und wohl auch den Sommer dieser der unseren entgegengesetzten Region erproben wirst. Du sorgst, so vertraue ich, für passende Garderobe. Feiner Flanell ist dabei am meisten zu empfehlen, denn er bietet die beste Gewähr gegen Erkältungen, die man sich, wie es freilich nicht im Worte liegt, bei Hitze sogar leichter zuzieht als bei Kälte. Sollten die Dir zur Verfügung gestellten Mittel sich gelegentlich als unzureichend erweisen, so vertraue, daß ich die Frau bin, eine vernünftige Ergänzung bei Deinem Vater mit Erfolg zu befürworten. Unsere freundlichsten Empfehlungen Deinen Gastgebern, Herrn und Frau Consul Meyer.
Mit Segenswünschen Maman